„Alles in meinem Leben war irgendwie Zufall und nicht geplant“, antwortet Klarissa Qualmann knapp und blickt wieder konzentriert auf ihre Arbeit. Wir haben mit ihr über erste Anproben, Eigenverantwortung, Authentizität und AHA-Momente gesprochen.
Wie sind Sie zum Maßschneiderhandwerk gekommen?
Zum Handwerk, also zum Häkeln, Stricken, Stopfen, bin ich durch meine Mutter gekommen. Mit drei Schwestern gab es bei uns zu Hause immer Hand- und kleine Näharbeiten. Das ist insofern meine erste Erinnerung an das Handwerk und das hat mich mein ganzes Leben nicht mehr losgelassen.
Kam für Sie eine Schneiderinnenlehre in Frage?
Ich hatte als junger Mensch keinen Plan von dem, was ich werden möchte. Im Bus grüßte ich immer einen Herrn und der meinte: „Das ist ja nett, dass Sie mich immer grüßen. Was machen Sie denn, Sie haben ja bestimmt bald die Schule abgeschlossen?“ Ich erwiderte, ich wüsste es nicht und er bot mir einen Praktikumsplatz in seiner Kanzlei an. So bin ich durch Zufall in meine Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfin geschlittert.
Danach wollte ich Geld verdienen, raus aus meinem Elternhaus und selbstständig sein. Ich arbeitete beim damaligen Bonner Oberbürgermeister und später 25 Jahre in einem großen Bankenverband. Mir hat die Arbeit viel Spaß gemacht, ich war als Vertrieblerin im Seminarmanagement für die Vermarktung in ganz Deutschland zuständig und hatte viel mit Menschen zu tun.
Was hat Sie im Job gefordert?
Ich war viel unterwegs. Fünf Tage die Woche auf der Straße und in Hotels. Irgendwann konnte ich nicht mehr abschalten, war immer erreichbar. Ich hatte viel Freude an dem was ich tat und merkte deshalb gar nicht, dass es zu viel war. Ich habe in meiner Freizeit nicht mehr gestrickt oder gewebt, sondern nur noch für den Job gelebt. Irgendwann war ich nicht mehr in der Lage meinen Koffer zu packen, ich fühlte mich ausgebrannt. Bei der Deutschen Rentenversicherung bekam ich Hilfe und konnte eine Umschulung beginnen. Das war mein neues Ziel und so kam erstmals die Idee, Schneiderin zu werden.
Wie leicht war es, einen Ausbildungsbetrieb zu finden?
Trotz Möglichkeit zur Umschulung steht und fällt das Ganze mit einem Betrieb. Ich hatte mit Anfang fünfzig großes Glück Sandro Dühnforth, Herrenschneider in Hamburg, kennenzulernen. Er schaute sich meine Bewerbung an und lud mich ein. Wir hatten ein sehr gutes Gespräch, er war immerhin knapp fünfzehn Jahre jünger als ich, aber das interessierte ihn nicht.
Beim Probearbeiten prüfte er mich auf Herz und Nieren und meinte am Abend: „Also, da bin ich jetzt ganz ehrlich, Talent sehe ich nicht zwingend, aber ich sehe deinen Ehrgeiz, das imponiert mir. Wenn du dir zutraust, zwei Jahre hier etwas zu lernen, dir von einem Jüngeren was sagen zu lassen und du dir auch nicht zu fein bist, die Werkstatt zu putzen, dann gebe ich dir die Chance.“ Als Umschülerin eine Lehre zur Herrenmaßschneiderin beginnen zu dürfen, in meinem Alter, das ist wirklich etwas Besonderes.
Warum wollten Sie auch noch einen Meisterbrief in der Hand halten?
Ich hätte mich mit 51 natürlich auch zurücklehnen können, aber ich wollte mich dieser Herausforderung stellen, weiteres Wissen aneignen und eigenverantwortlicher werden. Ich möchte als Meisterin Lust auf das Handwerk machen. Als Trainerin für Langzeitarbeitslose, die im Schnitt zwischen 30 und 40, manchmal 50 Jahre alt sind, möchte ich Vorbild sein. Wenn es darum geht, ihr Leben neu zu planen, höre ich oft, „ich bin zu alt“. Da erwidere ich, dass ich 56 bin und gerade meinen Meister mache. Ich zeige ihnen als positives, authentisches Beispiel: Wenn du willst, kannst du das auch. Natürlich müssen sie zur Schule, lernen, das ist nicht bequem. Aber wenn sie es schaffen, so wie ich meine Meisterprüfung schaffen will, dann ist das ein unbeschreibliches Gefühl.
Was hat Ihnen an der Meistervorbereitung am ELBCAMPUS besonders gefallen?
Es war eine Bereicherung, dass alle Dozierenden ausnahmslos einen großen Schatz an Praxiserfahrung haben. Dadurch können sie praktisch vermitteln und sind authentisch. Man nimmt ihnen ab, was sie tun. Sie sind keine klassischen Berufschullehrer, sondern durchweg jahrzehntelang selbst als Schneider und Schneiderinnen tätig. Das macht die Ausbildung am ELBCAMPUS besonders.
Hatten Sie während der Meistervorbereitung auch mit Unsicherheiten zu kämpfen?
Die Herausforderung war die Eigenverantwortung. Es gab immer wieder Momente, wo ich nachfragen wollte. Bei einer Anprobe, wir nähen immer zu Hause und zeigen die Stücke vor Ort, war mir der Schnitt schon gut gelungen. Ich musste überlegen, ob ich ihn aus günstigem Stoff neu mache, um nichts zu riskieren oder ob ich direkt auf dem Oberstoff schneide. Ich entschied mich für Letzteres und fragte niemanden. Das ist sogar ganz gut geworden! Diese Eigenverantwortung und aus den Fehlern zu lernen, hat mich gefordert und auch Überwindung gekostet. Aber die Dozierenden predigen stets: „Ihr wollt Meister sein, dann verhaltet euch auch so.“
Was war ein entscheidender AHA-Moment während der Meistervorbereitung am ELBCAMPUS?
Die Anproben während der Meistervorbereitung waren für mich eine Offenbarung. Hier habe ich gelernt, dass Schneider*innen im wahrsten Sinne des Wortes Sehende sind. Da steht jemand mit seinem Körper, seinen Eigenschaften und Sie lernen das alles zu sehen. Bei unserer ersten Anprobe habe ich zuerst gar nichts gesehen, bei jedem weiteren Modell der anderen Schüler*innen wurde das Bild klarer. Ich habe hier erkannt, dass jeder Körper schön ist, wenn er schön verpackt ist. Das ist sehen im Dreidimensionalen und diese Eigenheiten jedes Körpers zu erkennen, das war ein richtiger AHA-Moment.
Was machen Sie nach Ihren abgelegten Prüfungen?
Ich stehe auf Affirmationen und meine ist ein Emaille-Ladenschild auf dem "Klarissas Kleiderwerkstatt – Schneidermeisterin" steht. Es liegt mitten im Wohnzimmer und gibt mir Motivation. Wenn ich am 30.4. mein Ergebnis erhalte, fahre ich mit meinem Mann – meinem Modell – zuerst in die Koppel 66 zu meinem Schneidermeister Sandro Dühnforth. Der fiebert mit und war während der Meistervorbereitung immer für mich da. Danach geht es direkt nach Hause zu meinem Atelier und das Schild wird sofort an der Hauswand befestigt. Und wenn ich mich vom Prüfungsstress ein wenig erholt habe, möchte ich mich gerne in der Innung engagieren.